Sehenden Auges ins Milliardengrab -Zusammenfassung des Minderheitenberichts der grünen Fraktion

Am Freitag stellten die Abgeordneten Dr. Markus Büchler und Dr. Martin Runge von der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen im Bayerischen Landtag die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses in einer Pressekonferenz vor.

„Das Prestigeprojekt der CSU war von Beginn an falsch geplant und schöngerechnet. Ganz offensichtlich wurden Landtag und Öffentlichkeit jahrelang bewusst getäuscht. Die von der Staatsregierung verbreitete Lesart, die Bahn sei an allem Schuld und habe Zahlen vorenthalten, ist nicht tragfähig. Als Auftraggeber des Projekts hätte die Staatsregierung viel früher aufklären, die Notbremse ziehen und gegensteuern müssen. Es ist ein Skandal, dass zu keinem Zeitpunkt über Alternativen zum sündhaft teuren Tunnel nachgedacht worden ist.“

Dr. Markus Büchler, MdL

„Versaubeutelt von der CSU-Staatsregierung steht Bayern nun vor einem Scherbenhaufen; Zusatzkosten in Milliardenhöhe und neuerlicher Zeitverzug bis mindestens ins Jahr 2035. Das alles zu Lasten der S-Bahn-Fahrgäste, der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler und auch des Umwelt- und Klimaschutzes.“

Dr. Martin Runge, MdL

Die Erkenntnisse aus Zeugenvernehmungen im Untersuchungsausschuss Stammstrecke sowie aus vorliegenden Akten haben aus Sicht der Landtags-Grünen die Bayerische Staatsregierung, insbesondere Ministerpräsident Markus Söder, aber auch den ehemaligen Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer schwer belastet.

  1. Schönrechnerei, um Förderfähigkeit und Baugenehmigung zu erhalten?
    Das Prestigeprojekt der CSU war von vornherein unvollständig und falsch geplant. Heute ist klar: Wären damals, von Beginn an, alle notwendigen Kostenfaktoren berücksichtigt worden, hätte das Bundesministerium das Projekt gar nicht fördern dürfen. Zu diesem vernichtenden Ergebnis kam der Bundesrechnungshof im Jahr 2018. Dessen Bericht wurde damals allerdings weder im bayerischen noch im zu dem Zeitpunkt von der CSU geführten Bundesverkehrsministerium beachtet.
  2. Massive Umplanungen und Erweiterungen 2019 nötig
    Bereits Ende 2019 lagen Erkenntnisse vor, dass das Projekt zur Behebung von Planungsfehlern für viel Geld umgeplant, massiv erweitert und damit wesentlich teurer werden würde. Sehenden Auges wurde hingenommen, dass sich der Fertigstellungstermin um viele Jahre nach hinten verschiebt. Trotzdem wurde keine neue Wirtschaftlichkeitsuntersuchung durchgeführt – obwohl dies bei derart grundlegenden Projektausweitungen zwingend gewesen wäre. Die Söder-Regierung hat es vorgezogen zu schweigen.
  3. Söder-Regierung stiehlt sich aus der Verantwortung
    Die von der Staatsregierung verbreitete Lesart, die Bahn sei an allem Schuld und habe dem Freistaat Zahlen und Projektfortschritte vorenthalten, ist nicht tragfähig. Wir wissen: 2019 wurde vom bayerischen Verkehrsministerium eigens eine Baubegleitung eingesetzt, die intern früh vor Kostenexplosion und Zeitverzug gewarnt hat. Aber die Staatsregierung hat nichts unternommen – mit der Begründung, es gebe keine „belastbaren Zahlen“. Im Frühjahr 2022 dann plötzlich die Wende: Der neue Staatsminister Christian Bernreiter informiert die Öffentlichkeit über jene Kostenexplosion – und beruft sich dabei auf genau jene Zahlen, die von der Staatsregierung ursprünglich als „unzureichende Datenbasis“ bezeichnet worden waren.
  4. Geheimhaltung und Zeitpunkt der Veröffentlichung wohl strategisch geplant
    In unseren Augen ist klar, dass die Staatskanzlei die Hiobsbotschaft der Verzögerung und der Kostenexplosion an Landtag und Öffentlichkeit bewusst und aus wahltaktischen Überlegungen heraus verzögert hat. Unserer Einschätzung nach sollte das Desaster zu einem für Markus Söder am wenigsten ungünstigen Zeitpunkt öffentlich gemacht werden: Keinesfalls vor der Bundestagswahl im Herbst 2021, um dem Image eines etwaigen Kanzlerkandidaten Söder nicht zu schaden – sowie in zeitlich ausreichendem Abstand zur Landtagswahl 2023. Das belegen interne Papiere der Staatskanzlei: Im Dezember 2020 wird das Projekt darin als „kein Gewinnerthema im Wahlkampf“ bezeichnet und man wünsche eine „dilatorische“, also aufschiebende Behandlung des Themas.  Allein daraus lässt sich schließen: Ministerpräsident Söder und seine Staatsregierung stellen ganz offensichtlich parteipolitische Taktik zugunsten der CSU über das Wohl des Freistaats Bayern und seiner Bevölkerung. 

    Dass Christian Bernreiter als neuer Staatsminister für Bauen, Wohnen und Verkehr ausgerechnet im April 2022 mit schluckweisen Informationen zur Kostenexplosion an die Öffentlichkeit trat, ist ebenfalls offenkundig wahltaktischen Überlegungen geschuldet: Darauf lässt ein Aktenvermerk der Staatskanzlei vom März 2022 schließen, in dem steht: „Weitere Verzögerung/Kostensteigerung sehr kritisch mit Blick auf den Herbst 2023.“ (Hintergrund: Im Herbst 2023 sind Landtagswahlen in Bayern.)
  5. Rolle der damaligen Verkehrsministerin Kerstin Schreyer
    Auch wenn die damalige Verkehrsministerin Kerstin Schreyer anfangs versucht hat, beim Ministerpräsidenten, der Staatskanzlei und dem damaligen Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer Alarm zu schlagen – sie wurde sie von der Staatskanzlei offensichtlich erfolgreich ruhiggestellt. Anstatt an die Öffentlichkeit zu gehen, hat Kerstin Schreyer sich der Parteitaktik der Verzögerung unterworfen. Sie schwieg bis zu ihrem Ausscheiden, und sie unternahm keine weiteren nennenswerten Anläufe, die Aufklärung des Desasters voranzutreiben oder ein Spitzengespräch zwischen Bahn, Bund und Freistaat herbeizuführen. Kerstin Schreyer ist damit Teil des CSU-Kartells des Verzögerns, Verschweigens und Vertuschens.
  6. Söder-Regierung macht falsche Angaben, obwohl sie intern längst neue Zahlen hat
    Besonders bitter: Ganz offensichtlich wurden Landtag und Öffentlichkeit bewusst getäuscht. Aus den Befragungen im Untersuchungsausschuss ging eindeutig hervor, dass Anfragen der Grünen-Landtagsfraktion aus dem Jahr 2019 nachweislich falsch beantwortet wurden. Darin beharrte die Staatsregierung auf einer Fertigstellung im Jahr 2028 – trotz Ermittlungen der Baubegleitung, die bereits 2019 auf das Jahr 2034 als Jahr der Inbetriebnahme hinwiesen.
  7. Bundesweiter Partei-Klüngel der CSU/CDU
    Die Taktik des Verzögerns, Verheimlichens und Vertuschens war nur möglich durch ein massives Zusammenklüngeln von CSU-Politiker*innen auf Landes- sowie Bundesebene: zwischen Ministerpräsident Markus Söder, der damaligen Verkehrsministerin Kerstin Schreyer, Staatskanzleichef Florian Herrmann und dem damaligen Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer in Berlin, unter tatkräftiger Mithilfe des damaligen Bahn-Vorstands und früheren CDU-Spitzenpolitikers Ronald Pofalla.
  8. Mit Vollgas ins Milliardengrab
    Die Staatsregierung hat sehenden Auges das Milliardengrab 2. Stammstrecke weiterwachsen und weitere Planungs- und Bauaufträge erteilen lassen. Wohl wissend, dass das Projekt angesichts der um ein Jahrzehnt verzögerten Fertigstellung auf den Prüfstand bzw. umgeplant gehört. Schließlich stand und steht die milliardenschwere Förderung durch den Bund auf der Kippe – weil nach wie vor die Wirtschaftlichkeit des Projekts in Frage steht. Die Staatsregierung wollte aber ganz offensichtlich vollendete Tatsachen schaffen und die Fertigstellung ihres Prestigeprojekts erzwingen. Ein Umschwenken auf mögliche Alternativen ohne Tunnel wurde damit immer kostspieliger. Weitere Folge: Der – absolut dringend nötige – Ausbau im gesamten Münchner S-Bahnnetz ist jetzt auf unbestimmte Zeit verschoben. Die Staatsregierung hat damit schweren Schaden angerichtet.
  9. Verkehrsminister Bernreiter nennt nicht die vollen Kosten
    Verkehrsminister Christian Bernreiter hat zwar Zahlen genannt, hat aber nicht das volle Ausmaß des Desasters bekanntgegeben. Auf seiner Pressekonferenz am 30.6.2022 bezifferte er die voraussichtlichen Baukosten auf voraussichtlich über 7 Milliarden Euro, basierend auf den Zahlen der hauseigenen Baubegleitung.  Dabei lag seinem Haus längst die Hochrechnung der Baubegleitung auf 8,5 Milliarden Euro vor, wohlgemerkt zum Preisstand von 2021. Der Unterschied liegt darin begründet, dass in den 8,5 Milliarden künftige Preissteigerungen als Schätzung eingerechnet sind („Nominalisierung“). Bernreiter hat es vorgezogen, die nicht nominalisierten, niedrigeren Kosten zu benennen, obwohl sich bereits damals die hohe Inflation und der sich verschärfende Fachkräftemangel abzeichneten, die das Projekt mit allergrößter Wahrscheinlichkeit auf weit über 10 Milliarden Euro verteuern werden. Der neue Staatsminister Christian Bernreiter setzt damit die Tradition des Schönrechnens des CSU-Prestigeprojekts fort. Damit wird sich die 2. Stammstrecke höchstwahrscheinlich zum teuersten aus dem Ruder gelaufenen Großprojekt Deutschlands entwickeln!
  10. Landtags-Grüne zeigen Andreas Scheuer an
    Für die Zeugenaussage im Untersuchungsausschuss besteht der Verdacht einer uneidlichen Falschaussage durch Andreas Scheuer, daher unsere Strafanzeige vom 06.06.2023. Hintergrund: Scheuer sagte vor dem Untersuchungsausschuss aus, einen Brief der damaligen Ministerin Schreyer vom 07.10.2020 an ihn (als damaligen Bundesverkehrsminister) nie erhalten zu haben. Schreyer hatte in dem Schreiben die Probleme im Projekt 2. Stammstrecke angesprochen und um Unterstützung gebeten. Auch an ein damaliges Telefonat mit Schreyer konnte sich Scheuer bei seiner Zeugenvernehmung durch den Untersuchungsausschuss nicht erinnern.
    Allerdings: Schreyer sowie Scheuers Nachfolger, der aktuelle Bundesverkehrsminister Volker Wissing, haben die Existenz bzw. den Zugang des Briefes an das Bundesverkehrsministerium bestätigt (hierzu gibt es Aktenvermerke aus dem Bundesverkehrsministerium). Ebenso haben sie ein zu dem Thema geführtes Telefonat bestätigt.
    Die damalige Ministerin Schreyer erhielt ihren Angaben zufolge auch eine Antwort auf ihren Brief – in Form einer wenig förmlichen Kurznachricht von Andreas Scheuer, sie glaube, per WhatsApp. Demnach bot der Bundesminister Scheuer jedoch keine Hilfe an, sondern verwies darauf, die Ministerin solle sich an die Deutsche Bahn wenden. Bundesminister Scheuer ist, anstatt auf Aufklärung zu drängen, seiner Verantwortung für Bayerns größtes Bauprojekt nicht nachgekommen.
  11. Suche nach dem Sündenbock
    Verwerflich: Die Staatsregierung hat mit Nachdruck versucht, die Schuld für Verzögerungen und Kostensteigerungen der 2. Stammstrecke auf die Landeshauptstadt München abzuschieben. Tatsächlich waren aber nicht die Umplanungen am Hauptbahnhof wegen der städtischen U9 die Ursache für die Probleme. Vielmehr haben die Planungsfehler am Hauptbahnhof und die Umplanung zwischen Marienhof und Leuchtenbergring zu den hohen Zeitverlusten und immensen Kostensteigerungen geführt! Übrigens: Für diesen Abschnitt zwischen Marienhof und Leuchtenbergring liegt bis heute keine Baugenehmigung vor!
  12. Damalige Verkehrsministerin Schreyer kann sich nicht durchsetzen
    Fatal: Ein von der damaligen Verkehrsministerin Kerstin Schreyer vorgeschlagenes milliardenschweres Maßnahmenpaket zum Ausbau des S-Bahnnetzes außerhalb der Stammstrecke, das einen Kollaps des Systems hätte vermeiden können, wurde zurückgestellt. Ein schweres Versäumnis angesichts der aktuellen Unzuverlässigkeit der S-Bahn, die das Rückgrat der Verkehrswende im Raum München bilden soll. Es handelt sich hier um eine unentschuldbare Missachtung der pendelnden Bürger, die täglich Pannen in Kauf nehmen müssen – sowie um eine weitere Vernachlässigung des Klimaschutzes durch die Staatsregierung.
  13. Staatsregierung prüft nach wie vor keine Alternativen
    Zu keinem Zeitpunkt hat die Staatsregierung seit der immensen Kostenexplosion Alternativen zum Bau des CSU-Prestigeprojekts 2. Stammstrecke prüfen lassen. Lediglich 2009 war eine Vergleichsrechnung zwischen dem Neubau einer 2. Stammstrecke und einer Ertüchtigung des bestehenden Bahnsüdrings angestellt worden, deren Ergebnis zudem erheblich anzuzweifeln ist.
    Seitdem hat die Staatsregierung keinen Gedanken daran verschwendet, die Planungen auf den Südring umzuschwenken. Das wäre auch jetzt noch möglich! Denn ein erheblicher Teil der bislang erbrachten Bauleistungen wäre für ein Südring-Konzept ebenso nutzbar. Der Neubau des Empfangsgebäudes am Hauptbahnhof ist davon sowieso getrennt zu sehen. Angesichts des weiterhin fehlenden Baurechts für den Ostabschnitt der 2. Röhre sind verschiedene Szenarien denkbar: Dazu zählt ein Planungsstopp im Ostabschnitt zugunsten einer 2. Stammstrecke über den auszubauenden Südring und eine Vollendung des Baus der Tunnelstrecke lediglich vom Westen kommend bis zum Hauptbahnhof, wo künftig Verstärkerzüge enden und wenden könnten.

    Derartige Szenarien nicht zu untersuchen, ist in hohem Maße politisch verantwortungslos, von ideologischer Sturheit sowie verkehrsplanerischer Ahnungslosigkeit getrieben.
Videoaufnahme der Pressekonferenz der grünen Fraktion Bayern zum Untersuchungsausschuss Stammstrecke am 7. Juli 2023

Kommentar verfassen

Artikel kommentieren


* Pflichtfeld

Mit der Nutzung dieses Formulars erklären Sie sich mit der Speicherung und Verarbeitung Ihrer Daten durch diese Website einverstanden. Weiteres entnehmen Sie bitte der Datenschutzerklärung.

Verwandte Artikel